Unterstützte Entscheidungsfindung: So stärkst du Selbstbestimmung in der rechtlichen Betreuung

Überblick:
Die Reform des Betreuungsrechts hat die unterstützte Entscheidungsfindung ins Zentrum gerückt – doch wie setzt du dieses Prinzip im Alltag wirklich um?
Als rechtliche Betreuerin oder rechtlicher Betreuer bist du täglich gefordert, Entscheidungen mitzugestalten – sei es bei medizinischen Fragen, Wohnformen oder finanziellen Themen. Doch deine Rolle hat sich verändert: Statt für andere zu entscheiden, unterstützt du sie nun dabei, selbst zu entscheiden.
Das Prinzip der unterstützten Entscheidungsfindung verstehen
Seit der Reform des Betreuungsrechts 2023 ist die unterstützte Entscheidungsfindung der gesetzliche Standard. §1821 BGB verpflichtet Betreuer:innen dazu, Menschen in ihrer Fähigkeit zur autonomen Entscheidung zu stärken – nicht sie zu ersetzen. Die betreute Person steht im Zentrum, nicht der Betreuer oder das Ergebnis.
Unterstützte Entscheidungsfindung bedeutet: Ich tue alles, damit die betreute Person selbst eine Entscheidung treffen kann. Erst wenn das nicht möglich ist, darf eine Entscheidung vertretend getroffen werden – und auch dann muss sie sich am mutmaßlichen Willen orientieren.
Die Methoden zur Unterstützung richten sich nach den Fähigkeiten, Einschränkungen und Umständen der betreuten Person. Dieser Artikel zeigt dir konkrete Handlungsmöglichkeiten – ergänzt durch Beispiele, Dokumentationshinweise und Reflexionen aus der Praxis.
Gute Gespräche: Der erste Schritt zur Selbstbestimmung
- Nutze einfache, offene Fragen statt Entscheidungsalternativen.
- Lass Stille zu – nicht jede Antwort kommt sofort.
- Beobachte nonverbale Signale.
- Fasse zusammen und bitte um Bestätigung.
Beispiel: Herr S., 74, antwortet auf viele Fragen mit „weiß ich nicht“. Erst durch geduldige Gespräche über alltägliche Vorlieben („Trinken Sie lieber Kaffee oder Tee?“) entsteht ein Kontakt, der auch komplexere Themen wie Umzug oder medizinische Fragen zugänglich macht.
Praxisnutzen: Diese Gesprächsstrategie fördert Vertrauen und schafft die Grundlage für ein besseres Verständnis individueller Bedürfnisse. Sie ist essenziell, um aus einem Schweigen einen erkennbaren Willen herauszuarbeiten.
Wenn die kognitive Verarbeitung eingeschränkt ist
- Nur zwei Alternativen gleichzeitig anbieten
- Visualisierungen: Bilder, Karten, Symbole
- Entscheidungen aufteilen und in Einzelschritte bringen
Beispiel: Frau M. kann mit Worten wie „Betreutes Wohnen“ nichts anfangen. Erst Fotos von verschiedenen Wohnformen ermöglichen ihr zu sagen, welche Umgebung ihr vertrauter erscheint – ein Heim mit Garten erinnert sie an ihre Kindheit.
Praxisnutzen: Visuelle Reize und überschaubare Entscheidungsangebote fördern die Selbstbestimmung, auch wenn sprachliche oder begriffliche Barrieren bestehen. Sie machen abstrakte Optionen greifbar.
Wenn psychische Erkrankungen vorliegen
- Gespräch in stabiler Phase ansetzen
- Emotionale Reaktionen zulassen, aber sachlich bleiben
- Geduld und Wiederholung als Methode verstehen
Beispiel: Herr T. lehnt medizinische Eingriffe ab. In stabilen Phasen kann er jedoch nachvollziehen, was die Alternative wäre. Die Entscheidung wird über mehrere Tage hinweg getroffen – mit Unterstützung seiner Schwester als Vertrauensperson.
Praxisnutzen: Entscheidungen brauchen Zeit. Bei psychischen Erkrankungen ist der Moment des Gesprächs entscheidend. Stabilität, Wiederholung und emotionale Sicherheit sind hier Schlüssel zur Entscheidungsfähigkeit.
Wenn die Kommunikation eingeschränkt ist
- Bildkarten, einfache Skalen oder Apps wie Capito
- Unterstützer:innen aus dem sozialen Umfeld einbinden
- Geduldige Wiederholung
Beispiel: Bei Herrn L., der nach einem Schlaganfall kaum sprechen kann, bringt die Kombination aus Symbolkarten und Mimik klare Willensäußerungen hervor. Die Tochter bestätigt die Interpretation – was dokumentiert wird.
Praxisnutzen: Kommunikation endet nicht bei Sprache. Nonverbale Ausdrucksformen und Einbindung vertrauter Personen machen auch bei schweren Beeinträchtigungen Entscheidungen nachvollziehbar.
Herausforderungen und Stolperfallen – und wie du ihnen begegnest
- Zeitdruck: Unterstützte Entscheidungsfindung erfordert oft mehrere Gespräche – plane bewusst Zeitfenster ein.
- Konflikte mit Dritten: Angehörige, Ärzt:innen oder Einrichtungen haben oft eigene Vorstellungen. Dokumentiere deine Gesprächsinhalte und Entscheidungen nachvollziehbar.
- Unklare Willensbildung: Wenn keine eindeutige Entscheidung erkennbar ist, hilft Biografiearbeit und das Einholen früherer Äußerungen.
Gerade in komplexen Fällen zeigt sich: Die Haltung macht den Unterschied. Wer ehrlich am Willen der betreuten Person interessiert ist, findet oft neue Wege zur Verständigung.
Fallbeispiel: Unterstützte Entscheidungsfindung in der Praxis
Ausgangssituation: Herr Weber (62) hat nach einem Schlaganfall kognitive Einschränkungen und eine leichte Sprachstörung. Er lebt allein in seiner Eigentumswohnung und hat eine rechtliche Betreuung für die Bereiche Gesundheitssorge, Vermögenssorge und Behördenangelegenheiten. Seine behandelnde Ärztin empfiehlt eine Reha-Maßnahme, zu der Herr Weber zunächst skeptisch ist.
Schritt 1: Vorbereitung
Die Betreuerin informiert sich über verschiedene Reha-Einrichtungen, deren Spezialisierungen und Wartezeiten. Sie bereitet Informationsmaterial in einfacher Sprache vor und organisiert einen ruhigen Gesprächstermin in der Wohnung von Herrn Weber.
Schritt 2: Information und Aufklärung
In einem ersten Gespräch erklärt die Betreuerin Herrn Weber den Zweck der Reha-Maßnahme und die möglichen Vorteile für seine Selbstständigkeit. Sie zeigt Broschüren und Bilder von zwei geeigneten Einrichtungen und erklärt den typischen Tagesablauf. Sie beantwortet seine Fragen zur Dauer, zu Besuchsmöglichkeiten und zur Kostenübernahme.
Dokumentation: „Herr Weber zeigte anfangs Skepsis gegenüber einer Reha ('Ich komme schon zurecht'). Nach Erklärung der möglichen Verbesserungen, insbesondere der Sprachfähigkeit, zeigte er Interesse. Besonders wichtig war ihm die Frage, ob er sein Handy mitnehmen und täglich mit seiner Tochter telefonieren kann.“
Schritt 3: Erkundung von Wünschen und Präferenzen
In einem zweiten Gespräch fragt die Betreuerin nach Herrn Webers Bedenken und Wünschen. Er äußert Sorge, zu lange von zu Hause weg zu sein und seine Selbstständigkeit zu verlieren. Außerdem ist ihm wichtig, dass die Einrichtung nicht zu weit von seiner Tochter entfernt ist.
Dokumentation: „Herr Weber äußerte Sorge vor einem langen Aufenthalt ('Nicht länger als nötig'). Wichtig ist ihm die Nähe zur Tochter in Köln. Er möchte nach der Reha wieder in seine Wohnung zurückkehren können. Frühere positive Erfahrungen mit Krankengymnastik wurden erwähnt.“
Schritt 4: Unterstützung bei der Entscheidungsfindung
Die Betreuerin stellt zwei Einrichtungen vor: Eine spezialisierte Klinik mit sehr gutem Ruf, aber 100 km entfernt, und eine etwas weniger spezialisierte, aber nur 20 km von der Tochter entfernt. Sie bespricht mit Herrn Weber Vor- und Nachteile beider Optionen.
Dokumentation: „Wir haben Vor- und Nachteile beider Einrichtungen besprochen. Herr Weber hat sich nach Abwägung für die näher an seiner Tochter gelegene Einrichtung entschieden, obwohl diese etwas weniger spezialisiert ist. Ausschlaggebend waren die Besuchsmöglichkeiten und die kürzere Anfahrt für seine Tochter.“
Schritt 5: Umsetzung und Nachbereitung
Die Betreuerin unterstützt Herrn Weber bei der Anmeldung in der gewählten Einrichtung und organisiert einen Besichtigungstermin vor Beginn der Maßnahme. Sie vereinbart regelmäßige Telefonate während der Reha, um seine Zufriedenheit zu überprüfen.
Dokumentation: „Anmeldung in der Reha-Klinik Sonnenberg erfolgt. Besichtigungstermin für den 10.04.2025 vereinbart, Herr Weber wird von seiner Tochter begleitet. Beginn der Maßnahme voraussichtlich am 20.04.2025 für zunächst drei Wochen, mit Option auf Verlängerung je nach Fortschritt und Wunsch von Herrn Weber.“
Dokumentation: Rechtliche Grundlage & Praxis
- Darstellung der Entscheidungsfrage (z. B. medizinisch, finanziell, sozial)
- Konkrete Schritte der Unterstützung (Visualisierung, Gesprächsrahmen etc.)
- Erkennbarer Wille der betreuten Person (auch nonverbal)
- Deine Einschätzung: war eine eigene Entscheidung möglich?
Diese Dokumentation schützt nicht nur die Rechte der betreuten Person – sondern auch deine Entscheidung als rechtlich nachvollziehbaren Vorgang.
Weiterdenken, Vernetzen, Feedback geben
- UN-BRK (Artikel 12)
- Lebenshilfe – Unterstützte Entscheidungsfindung
- Wegweiser Demenz – Kommunikation
Hast du eigene Erfahrungen mit diesem Thema gemacht? Dann schreib uns an
Fazit:
Die unterstützte Entscheidungsfindung ist mehr als eine rechtliche Pflicht – sie ist ein Paradigmenwechsel im Betreuungsrecht. Mit den vorgestellten Methoden und Dokumentationsansätzen kannst du diesen Wandel in deinem Betreuungsalltag erfolgreich umsetzen und damit einen wichtigen Beitrag zur Selbstbestimmung deiner Betreuten leisten.
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