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Umgang mit herausforderndem Verhalten: Strategien für Berufsbetreuer:innen bei psychischen Erkrankungen

Lesezeit
15
Minuten

Überblick:

Herausforderndes Verhalten ist im Betreuungsalltag keine Seltenheit – besonders bei psychisch erkrankten Betreuten. Dieser Artikel gibt dir fundiertes Wissen, rechtliche Orientierung und konkrete Strategien an die Hand, um in angespannten Situationen professionell, empathisch und zugleich klar zu handeln. Mit vertieften Praxisbeispielen, einer Checkliste zur Vorbereitung und Notfallstrategien für akute Krisen.

Einleitung

Die rechtliche Betreuung bringt dich in viele Lebensrealitäten – und manche davon stellen dich vor erhebliche Herausforderungen. Besonders dann, wenn Betreute aufgrund psychischer Erkrankungen Verhaltensweisen zeigen, die schwer einzuordnen sind: plötzliche Wutanfälle, sture Verweigerung, irrationale Vorwürfe oder eine fast komplette Abschottung. Diese Reaktionen fordern nicht nur deine Geduld, sondern auch deine fachliche Haltung – denn sie sind oft Symptome einer Erkrankung und keine bewusste Entscheidung gegen dich.

Dabei stehst du in einem Spannungsfeld: Du musst das Selbstbestimmungsrecht wahren und gleichzeitig bei Eigen- oder Fremdgefährdung eingreifen. Um in dieser Balance gut handlungsfähig zu bleiben, brauchst du mehr als nur „guten Willen“ – du brauchst Strategien, rechtliches Wissen, klare Kommunikation und vor allem: einen geschulten Blick für das, was hinter dem Verhalten steckt.

In diesem Artikel bekommst du praxisnahe Werkzeuge an die Hand – von der Vorbereitung bis zur Krisenintervention, von der rechtlichen Absicherung bis zur Selbstfürsorge. Ziel ist es, dir mehr Sicherheit und Handlungsspielraum im Umgang mit herausforderndem Verhalten zu geben.

Psychische Erkrankungen verstehen: Verhalten als Reaktion auf Überforderung

Im Betreuungskontext begegnest du häufig Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden. Das Spektrum ist breit – von Depression und Angststörungen über Psychosen und Persönlichkeitsstörungen bis hin zu kognitiven Einschränkungen im Alter. Was diese Diagnosen gemeinsam haben: Sie beeinflussen, wie ein Mensch denkt, fühlt, wahrnimmt und handelt.

Dabei ist herausforderndes Verhalten nicht zwangsläufig „krank“, aber es kann krankheitsbedingt entstehen. Zum Beispiel kann eine Person mit Schizophrenie Stimmen hören und dadurch in Panik geraten. Eine Person mit Borderline-Störung kann zwischen Nähe und Ablehnung schwanken. Eine Betreute mit schwerer Depression kann jeden Kontakt verweigern – nicht aus Trotz, sondern weil ihr die Kraft fehlt.

Wichtig ist, dass du eine klare Unterscheidung triffst: Der Mensch ist mehr als seine Symptome. Auch wenn ein Verhalten dich persönlich trifft – es ist oft Ausdruck innerer Not. Diese Haltung hilft dir, professionell zu bleiben und nicht in eine emotionale Gegenreaktion zu rutschen.

Vorbereitung ist die halbe Lösung: So minimierst du Risiken im Vorfeld

Bevor es zu einer schwierigen Begegnung kommt, kannst du viel tun, um die Situation zu entschärfen. Vorbereitung bedeutet hier nicht nur organisatorische Planung, sondern auch innere Haltung und Wissen über das Gegenüber.

Wichtige Elemente der Vorbereitung:

  • Informationslage klären: Welche Diagnosen sind bekannt? Gibt es dokumentierte Krisenverläufe? Welche Erfahrungen haben andere Fachkräfte gemacht?
  • Trigger erkennen: Frühwarnzeichen können z. B. ein veränderter Tonfall, Rückzug, hektische Bewegungen oder übermäßiger Rededrang sein.
  • Rahmen schaffen: Wähle Ort und Zeit so, dass Sicherheit und Ruhe möglich sind. Ideal ist ein Raum mit zwei Türen, kein beengter Platz, keine anderen Betreuten im Sichtfeld.
  • Selbstreflexion einbauen: Wie geht es dir heute? Was stresst dich? Gibt es Themen, bei denen du innerlich aufgewühlt bist?
  • Absicherungen organisieren: Wenn du weißt, dass es schon zu Übergriffen kam, sprich das im Team an. Klare Regeln zur Begleitung oder Eskalation helfen dir und deinem Gegenüber.

Checkliste: Vorbereitung auf schwierige Gespräche

  • Habe ich aktuelle Informationen zur Krankengeschichte?
  • Gibt es bekannte Trigger oder Frühwarnzeichen?
  • Ist das Setting geeignet (ruhig, sicher, mit Fluchtmöglichkeit)?
  • Bin ich innerlich stabil, klar und präsent?
  • Gibt es eine Rückfalllinie, wenn das Gespräch scheitert?

Diese Maßnahmen mögen banal wirken – sie entscheiden aber oft darüber, ob ein Gespräch ruhig verläuft oder eskaliert.

Kommunikation mit Fingerspitzengefühl: Wie du durch Sprache deeskalierst

Sprache ist dein stärkstes Werkzeug – und dein größter Risikofaktor. Gerade in angespannten Situationen entscheidet dein Ton, deine Haltung und dein Verhalten darüber, ob dein Gegenüber sich gesehen oder angegriffen fühlt.

Zentrale Kommunikationsprinzipien

  • Aktives Zuhören: Du signalisierst, dass du verstehst – durch kurze Rückmeldungen („Ich höre, dass Sie sich übergangen fühlen“), durch Nachfragen oder Zusammenfassungen.
  • Validation: Diese Methode bedeutet, die Gefühle deines Gegenübers anzuerkennen, ohne den Inhalt zu bewerten. Beispiel: „Ich merke, dass Sie große Angst haben – das muss schwer auszuhalten sein.“
  • Einfache Sprache: Gerade bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder akuten Psychosen sind klare, kurze Sätze wichtig.
  • Nonverbale Signale bewusst nutzen: Körpersprache, Blickkontakt, ruhige Stimme – oft wirkungsvoller als Worte.
  • Grenzen klar setzen: Freundlich, aber bestimmt benennen, wenn Verhalten nicht akzeptabel ist („Ich möchte, dass wir respektvoll bleiben.“)

Kommunikation ist kein Allheilmittel – aber sie kann verhindern, dass Situationen eskalieren.

Schwierige Verhaltensweisen besser verstehen – und richtig reagieren

Wenn Betreute sich auffällig, aggressiv, distanziert oder unzugänglich verhalten, ist das selten „grundlos“. Häufig sind solche Reaktionen Ausdruck einer Überforderung, von innerer Not oder von krankheitsbedingter Verzerrung der Wahrnehmung. Dein professioneller Umgang entscheidet in diesen Momenten über Eskalation oder Stabilisierung.

Hier stellen wir dir typische Verhaltensmuster vor – jeweils mit einer kurzen fachlichen Einordnung, konkreten Strategien und einem Beispiel aus der Praxis.

Aggressives und bedrohliches Verhalten

Aggression ist eine der herausforderndsten Situationen im Betreuungsalltag – besonders, wenn sie sich plötzlich oder heftig äußert. Ursachen können Überforderung, psychotische Symptome, Kontrollverlust oder das Gefühl von Ohnmacht sein. Gerade bei Menschen mit traumatischer Vorgeschichte oder Persönlichkeitsstörungen kann ein harmloses Gespräch schnell kippen.

  • Halte ausreichend körperlichen Abstand (nicht frontal gegenüber)
  • Biete Rückzugsmöglichkeiten („Wir können eine Pause machen“)
  • Vermeide provozierende Aussagen wie „Beruhigen Sie sich“
  • Verwende deeskalierende Ich-Botschaften („Ich merke, dass wir gerade aneinandergeraten. Ich möchte, dass wir beide heil rauskommen.“)
  • Bei konkreter Bedrohung: Abbruch und sofortiger Rückzug

Beispiel: Ein Betreuter mit impulsiver Persönlichkeitsstörung beginnt während eines Gesprächs, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Die Betreuerin bleibt sitzen, sagt ruhig: „Ich merke, dass Sie sehr aufgebracht sind – ich gehe jetzt kurz raus, damit wir beide zur Ruhe kommen können.“ Später kommt sie mit einem Kollegen zurück. Der Betreute hat sich beruhigt und nimmt das Gespräch wieder auf.

Verweigerungshaltung und Rückzug

Diese Reaktion wirkt oft wie Ablehnung, ist aber meist ein Schutzmechanismus. Menschen mit Depression, Angststörungen oder auch Autismus ziehen sich zurück, wenn sie sich überfordert oder entwertet fühlen. Auch mangelndes Vertrauen kann eine Rolle spielen.

  • Gib Raum und Zeit („Ich sehe, dass Sie heute nicht reden wollen – ich komme in zwei Tagen wieder“)
  • Keine Sanktionen oder „pädagogische Maßnahmen“
  • Kontakt halten durch kleine, regelmäßige Zeichen (z. B. Karte, Nachricht, Aushang)
  • Struktur anbieten, ohne Druck zu erzeugen

Beispiel: Eine Betreute mit wiederkehrender Depression reagiert auf keinen Brief und keine Nachricht. Der Betreuer schreibt ihr regelmäßig kurze, wertschätzende Postkarten („Ich denke an Sie. Wenn Sie mögen, bin ich nächsten Dienstag um 10 Uhr wieder da.“). Nach vier Wochen bittet sie um ein Gespräch.

Wahnvorstellungen und Realitätsverzerrungen

Menschen in psychotischen Phasen können Dinge hören, sehen oder glauben, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind. Ein häufiger Fehler ist, den Wahn zu „widerlegen“. Das führt oft zu Vertrauensverlust oder Eskalation.

  • Gehe nicht inhaltlich auf die Vorstellung ein („Ich glaube, dass das anders ist“ reicht aus)
  • Betone, dass du ansprechbar bleibst
  • Suche gemeinsame Handlungsfähigkeit trotz unterschiedlicher Wahrnehmung

Beispiel: Ein Betreuter glaubt, vom Finanzamt ausspioniert zu werden. Statt zu diskutieren, sagt die Betreuerin: „Ich verstehe, dass das für Sie eine große Belastung ist. Ich möchte trotzdem mit Ihnen schauen, wie wir gemeinsam Ihre Unterlagen ordnen können.“ Dadurch bleibt der Kontakt bestehen.

Manipulatives Verhalten

Nicht alle schwierigen Verhaltensweisen sind Ausdruck akuter Erkrankung. Manche Betreute – besonders mit dissozialen oder narzisstischen Zügen – versuchen bewusst, Schuldgefühle zu erzeugen, Fakten zu verdrehen oder Betreuungspersonen gegeneinander auszuspielen.

  • Klare Absprachen treffen und dokumentieren
  • Kein „Geheimnis-Spiel“ – Transparenz auch gegenüber Dritten
  • Persönliche Angriffe nicht persönlich nehmen

Beispiel: Eine Betreute behauptet gegenüber dem Wohnheim, der Betreuer habe ihr Geld verweigert. Die Situation wird im nächsten Gespräch sachlich aufgearbeitet: „Sie haben dort etwas anderes erzählt – lassen Sie uns gemeinsam in Ihre Kontoübersicht schauen.“ Das schafft Klarheit und nimmt den Druck raus.

Selbstschädigendes Verhalten

Hier ist besondere Vorsicht geboten. Selbstverletzung oder Suizidalität können Anzeichen einer akuten Krise sein. Zugleich ist nicht jedes geäußerte Risiko gleich behandlungsbedürftig. Es gilt, sensibel, aber auch strukturiert vorzugehen.

  • Nicht bagatellisieren – aber auch nicht dramatisieren
  • Klare Dokumentation, Einholen einer fachärztlichen Einschätzung
  • Keine Entscheidung „aus dem Bauch heraus“ – Absprache im Team
  • Akutfälle sofort absichern (z. B. Notruf, Sozialpsychiatrischer Dienst)

Beispiel: Eine Betreute sagt in der Beratung: „Wenn das so weitergeht, bringt das doch alles nichts mehr.“ Der Betreuer fragt ruhig nach, ob sie schon konkrete Gedanken habe. Als sie dies bejaht, begleitet er sie in die psychiatrische Ambulanz.

Eskalation erkennen – und richtig handeln: Das Deeskalationsmodell der DGPPN

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat ein praxisbewährtes Stufenmodell der Deeskalation entwickelt. Es beschreibt, wie du frühzeitig gegensteuern und Risiken minimieren kannst:

Stufe 1: Wahrnehmen

Du bemerkst erste Anzeichen von Unruhe, Anspannung, gereiztem Verhalten. Ziel: Früh reagieren – nicht erst, wenn es „knallt“.
Beispiel: Die Körpersprache wird unruhig, der Ton schärfer, Gespräche stocken.

Stufe 2: Ansprechen

Sprich ruhig an, was du beobachtest – nicht bewertend, sondern beschreibend.
Beispiel: „Mir fällt auf, dass Sie sehr angespannt wirken. Wollen wir kurz eine Pause machen?“

Stufe 3: Struktur geben

Wenn das Gespräch zu kippen droht, klare Handlungsstruktur geben – z. B. Gespräch vertagen, Begleitung hinzuziehen, Zeitrahmen setzen.
Beispiel: „Wir führen das Gespräch in zehn Minuten fort – mit einer Kollegin dabei.“

Stufe 4: Distanz schaffen

Bei fortschreitender Eskalation: Raum verlassen, Gespräch abbrechen, Rückzug ermöglichen.
Beispiel: „Ich merke, dass wir keinen guten Weg finden. Ich gehe jetzt und melde mich morgen wieder.“

Stufe 5: Intervention / Hilfe holen

Konkrete Gefahr für Leib und Leben? Dann gilt: Verantwortung nicht allein tragen – Polizei, Fachstellen, Notruf hinzuziehen.
Beispiel: Die Person wirft mit Gegenständen, schreit, droht. Du verlässt sofort den Raum, rufst 112 oder den Psychiatrischen Notdienst.

Dieses Modell hilft dir, stufenweise Sicherheit zu schaffen – für dich und dein Gegenüber.

Rechtliche Aspekte: Was erlaubt ist – und was rechtlich verpflichtend wird

Als Berufsbetreuer:in bewegst du dich in einem rechtlich stark regulierten Feld. Besonders beim Umgang mit herausforderndem Verhalten gilt: Du darfst nicht einfach „nach Gefühl“ handeln – dein Spielraum wird durch das Betreuungsrecht, die Psychisch-Kranken-Gesetze der Länder und die verfassungsrechtlich geschützten Grundrechte der Betreuten bestimmt.

Hier bekommst du einen fundierten Überblick über die wichtigsten rechtlichen Rahmenbedingungen und deine Handlungspflichten.

Zwangsmaßnahmen: Nur mit gerichtlicher Genehmigung

Laut § 1831 BGB dürfen sogenannte freiheitsentziehende Maßnahmen nur dann angewendet werden, wenn

  • eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt,
  • keine anderen Mittel zur Verfügung stehen,
  • und ein richterlicher Beschluss vorliegt (Ausnahme: akute Notfälle mit nachträglicher Genehmigungspflicht).

Dazu zählen u.a.:

  • körperliche Fixierung (z. B. Bettgitter, Bauchgurte)
  • medikamentöse Ruhigstellung (Sedierung)
  • Einschließen in einem Raum (z. B. geschlossene Einrichtung)

Wichtig: Auch die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung ist eine solche Maßnahme und bedarf einer richterlichen Entscheidung. Die Einwilligung der betreuten Person ist dafür nicht ausreichend – entscheidend ist ihre Einwilligungsfähigkeit und die konkrete Gefährdungslage.

Unterbringungsähnliche Maßnahmen

Nicht immer geht es um vollständige Unterbringung – auch unterbringungsähnliche Maßnahmen (z. B. nächtliches Einschließen in Pflegeeinrichtungen) sind genehmigungspflichtig. Als Betreuer:in bist du hier nicht direkt durchführend, aber oft zuständig für die Prüfung und Zustimmung gegenüber Einrichtungen.

Achte in diesen Fällen auf:

  • schriftliche Fixierung im Betreuungsbeschluss
  • Rücksprache mit ärztlichem oder pflegerischem Fachpersonal
  • zeitliche Begrenzung und regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit

Dokumentationspflichten: Klarheit schützt

Sobald es zu einer außergewöhnlichen Situation kommt – sei es eine Eskalation, ein Gesprächsabbruch, eine Bedrohung oder eine Maßnahme im Grenzbereich – bist du zur lückenlosen Dokumentation verpflichtet.

Dazu gehören:

  • Zeitpunkt und Anlass des Vorfalls
  • Verlauf und Verhalten der beteiligten Personen
  • getroffene Maßnahmen (z. B. Abbruch, Polizei verständigt, ärztliche Einschätzung eingeholt)
  • eigene Einschätzung zur Lage und Gefährdung
  • ggf. eingeleitete Schritte (z. B. gerichtliche Antragstellung, Info an Angehörige)

Nutze dafür idealerweise ein standardisiertes Formular oder ein digitales System, das sich später nachvollziehen lässt. Dokumentation ist keine Bürokratie – sie schützt dich auch im Streitfall vor Vorwürfen oder Falscheinschätzungen.

Zusammenarbeit mit Fachstellen: Rechte wahren, Hilfe nutzen

Als Betreuer:in bist du keine Notfallpsychiatrie auf zwei Beinen. Wenn Situationen über deine fachliche Zuständigkeit hinausgehen, ist es deine Pflicht – und dein Recht –, externe Hilfe hinzuziehen:

  • Sozialpsychiatrischer Dienst (in jedem Landkreis)
  • Kriseninterventionsteams (z. B. in Kliniken oder ambulanten Diensten)
  • Hausärzt:innen oder Fachärzt:innen
  • ggf. Polizei oder Rettungsdienste

Kooperation bedeutet nicht nur Hilfe holen – es bedeutet auch, deine Handlung abzustimmen und nicht unnötig zu isolieren. Du bist Teil eines Hilfesystems – nutze es.

Haftung und Schutz

Solange du im Rahmen deiner Betreuungsvollmacht handelst, gut dokumentierst und Hilfe hinzuziehst, bist du rechtlich gut abgesichert. Probleme entstehen meist dann, wenn:

  • Maßnahmen ohne rechtliche Grundlage umgesetzt werden,
  • Gefährdungen ignoriert oder bagatellisiert werden,
  • oder Kommunikation und Dokumentation unterbleiben.

Ein offenes Wort: Betreuer:innen haften nicht dafür, dass ein Mensch gesund wird – aber dafür, dass sie fachlich, menschlich und rechtlich sorgfältig handeln.

Praxis vertieft: Drei Fallbeispiele mit Analyse

Die folgenden Fallbeispiele basieren auf realen oder realistisch nachempfundenen Betreuungssituationen. Sie zeigen, wie sich herausforderndes Verhalten äußern kann – und wie professionelles Handeln aussieht.

Fall 1: Eskalation nach Leistungsbescheid

Ausgangslage: Herr B., 43, lebt mit einer chronischen Psychose und wird in einer betreuten WG versorgt. Das Sozialamt stellt kurzfristig eine Unterkunftsleistung ein, was Herr B. als „Angriff“ deutet.

Situation: Beim nächsten Termin schlägt er mit der Faust auf den Tisch, beschimpft die Betreuerin, macht wirre Vorwürfe.

Maßnahme: Die Betreuerin bleibt ruhig, verlässt den Raum mit dem Hinweis: „Ich merke, dass das gerade zu viel ist – ich komme in 20 Minuten mit einem Kollegen wieder.“ Sie informiert die Einrichtung, holt Rückendeckung und bietet später ein Gespräch mit dem Sachbearbeiter an. Es wird Widerspruch eingelegt.

Lernpunkt:  Frühe Eskalation erkennen, Deeskalation vor Durchführung. Verantwortung klären und zeitnah professionell begleiten – das gibt Struktur.

Fall 2: Verfolgungswahn und Behördenangst

Ausgangslage: Frau K., 56, hat eine paranoide Schizophrenie. Sie soll zur Rentenberatung, hat aber Angst, dass sie „ausgespäht“ wird. Sie verweigert alle Unterlagen.

Situation: Sie äußert: „Die Beraterin hat mir nachspioniert, ich weiß das.“ Gleichzeitig wirkt sie verzweifelt.

Maßnahme: Der Betreuer diskutiert nicht über die Vorstellung, sondern sagt: „Ich nehme Ihre Sorge ernst. Ich bleibe bei Ihnen. Wir schauen gemeinsam, was heute möglich ist.“ Er dokumentiert die Wahrnehmung, kontaktiert die behandelnde Psychiaterin und vereinbart eine ambulante Krisenintervention.

Lernpunkt: Wahn nicht bekämpfen – Beziehung anbieten. Die Beziehungsebene stabilisiert, auch wenn die Realität verzerrt ist.

Fall 3: Schweigen und Rückzug

Ausgangslage: Herr Y., 67, leidet an einer schweren Depression. Er antwortet seit Wochen auf keine Anfragen. Es besteht Sorge um Verwahrlosung.

Situation: Der Betreuer erreicht ihn nicht – telefonisch, postalisch, vor Ort keine Reaktion.

Maßnahme: Der Betreuer bringt bei jedem Besuch eine kleine Karte mit: „Ich denke an Sie. Wenn Sie bereit sind, bin ich am Donnerstag um 11 Uhr hier.“ Nach drei Wochen öffnet Herr Y. die Tür. Er sagt: „Ich hab Ihre Karte gelesen. Ich konnte nur nicht.“

Lernpunkt: Auch Rückzug ist Kommunikation. Wer ohne Erwartung dranbleibt, baut Vertrauen auf – besonders in depressiven Phasen.

Fazit:

Klare Haltung, kluge Strategien, kollegiale Unterstützung

Der Umgang mit herausforderndem Verhalten ist kein Nebenschauplatz – er ist Kern professioneller Betreuungsarbeit. Du musst nicht alles wissen, nicht jede Krise allein lösen. Aber du brauchst:

  • ein klares Verständnis für psychische Erkrankungen,
  • rechtliches Wissen,
  • kommunikative Werkzeuge,
  • Netzwerke – und auch
  • Fürsorge für dich selbst.

Denn nur wenn du stabil bleibst, kannst du andere sicher begleiten.

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